Kapitel 5, Eleon wird von Praiadan in Kannemünde zur Rede gestellt

Aus nv-wiki.de
Zur Navigation springen Zur Suche springen
  „Wo wart Ihr?“, dröhnte ihnen anklagend und missmutig die Stimme Praiadans entgegen. Auch der Geweihte hatte nicht viel geschlafen, was deutlich sichtbare Augenringe offenbarten. Allerdings war er wieder in eine saubere Robe gekleidet und hatte seine Waffe zurück, was ihm gleich wieder eine Aura moralischer Überlegenheit gab, die Eleon zutiefst abstieß.
  Auch wenn er dem Geweihten gerne mit gleicher Münze zurückgezahlt hätte, so antwortete er dennoch freundlich: „Bevor ich den weiten Weg durch die Wüste antrete, wollte ich noch einmal ein wenig Grün sehen. Sedrox begleitete mich. Wir haben die Nacht im Einklang mit der Natur im Wald verbracht.“
  „Aha, und was sonst noch?“, hakte Praiadan nach, nicht wirklich überzeugt von der Antwort des mitgenommen wirkenden Gelehrten.
  Eleon runzelte ein wenig die Stirn und fragte: „Was meint Ihr, Euer Gnaden?“
  „Habt Ihr die ganze Nacht mit dem Betrachten des Grüns verbracht?“, erkundigte sich der Geweihte skeptisch und mit kaum verhohlenem Zorn in der Stimme.
  „Nun ja, für den einen mögen es unwichtige Pflanzen sein, für mich dagegen ist es ein Stück Heimat, Euer Gnaden.“, entgegnete Eleon müde. „Wie ihr schon wisst war ich früher immer auf Reisen und nach den langen Wochen auf dem Schiff... Aber das kann nicht der Grund Eurer Frage sein. Was bedrückt Euch?“
  „Mich bedrückt nichts. Mir widerstrebt es nur, dass Ihr einen Diener des Götterfürsten immer und immer wieder anlügt.“, fuhr ihn Praiadan in einer Tonlage an, die Sedrox, der beide Pferde am Zügel führte, sofort nach vorne schnellen ließ.
  Doch Eleon hielt seinen Freund zurück. „Nun mal langsam!“, ermahnte er den Geweihten und schaute ihm in die finsteren Augen. „Wenn Ihr etwas vorzubringen habt, dann fragt nicht, sondern sprecht mich direkt darauf an.“
  Der Praiot schüttelte heftig mit dem Kopf und knurrte wütend: „Solange Ihr mich ohnehin anlügt, habe ich nichts vorzubringen.“ Er drehte sich um und wollte an ihnen vorbeilaufen.
  Doch Eleon versuchte es wider besseren Wissens erneut, zu ihm durchzudringen: „Praiadan, wartet einen Augenblick. Was erwartet Ihr von mir? Auch Ihr seid in diesem Punkt nicht ehrlich. Wir haben uns zu Beginn der Reise gut verstanden, also gestatte ich Euch, mir offen zu sagen was Ihr über mich denkt. Und Ihr könnt sicher sein, ich werde ehrlich antworten.“
  Praiadan schluckte wütend, als er sich umdrehte, sein Blick war hassverzehrt und triefte vor Verachtung. „Einstmals sah ich Euch fast als eine Art Freund an. Doch nun…“, er vollführte eine wegwerfende Geste mit seiner rechten Hand.
  „Was hat mich in Euren Augen verändert?“, wollte Eleon endlich wissen.
  „Lügen, nichts als Lügen! Ihr sagtet nichts über den Fluch, der Euch begleitet. Oder ist es gar ein gewollter Pakt?“, spuckte Praiadan die Worte förmlich aus.
  „Ich verstehe. Aber meine Meinung steht. Sprecht offen und ohne Vorurteile zu mir und ich werde Euch ehrlich antworten. Ihr mögt darüber denken was ihr wollt, doch ich bin noch immer auf Eurer Seite.“, versuchte Eleon erneut, ein vernünftiges Gespräch mit dem Geweihten zu führen, auch wenn ihm die Sinnlosigkeit immer deutlicher vor Augen trat.
  „Ich habe offen gesprochen.“, merkte Praiadan nur trocken an.
  „Zu mehr als Spott seid Ihr nicht fähig? Nun dann will ich offen sein. Jawohl, ich besitze Fähigkeiten, die Eurem Glauben das Recht zu geben scheinen, mich und meinesgleichen zu verfolgen. Doch habe ich sie immer in guter Absicht eingesetzt. Ihr solltet wissen, dass dies keine Lügen sind, Praiadan. Ich habe uns vor der „Faust von Maraskan“ gerettet, unsere Verwundeten versorgt. Ich hätte sogar Euch gestern geholfen, wenn Ihr nicht so verdammt engstirnig und verbohrt wärt.“, regte sich nun auch Eleon zornig auf.
  „Fähigkeiten? Ihr nennt so etwas Fähigkeiten?“, schrie Praiadan ihn wutentbrannt an. „Mir tut es leid, dass meine Kirche solche Leute wie Euch nicht konsequent verfolgt!“
  Nur das energische Auftreten Sedrox konnte eine Eskalation verhindern, der die Pferde einem mittlerweile eingetroffenen Knecht der Stadtwache gegeben und sich nun demonstrativ hinter Eleon gestellt hatte.
  „Aha. So ist es also um Euer Herz und Euren Verstand bestellt.“, entgegnete der Gelehrte dem Geweihten mit kalter Verachtung in der Stimme. „In den Zeiten der Not mit denen zu brechen, die vieleicht einst die letzte Rettung sein könnten, erscheint mir nicht gerade überlegt, aber bitte. Ich habe Eure Beleidigungen zur Kenntnis genommen. Nicht jeder ist ein Lügner, den Ihr auf dem ersten Blick nicht einordnen könnt. Ich habe Euch nichts mehr zu sagen.“
  Praiadan drehte sich um und stapfte davon. Doch nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal um, seine Augen loderten wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. „Ihr werdet brennen, Eleon. Ihr werdet lichterloh brennen!“, schrie er den Gelehrten wie von Sinnen an, dann drehte er sich um und lief davon in Richtung Markt.
  Sedrox und Eleon wechselten einen erleichterten, aber ebenso vielsagenden Blick. Wenn doch jetzt Sumudan hier wäre, dachte der Gelehrte, der wüsste Rat. Er seufzte vernehmlich und Tränen kullerten über seine Wangen.
  […]Auch Eleon hing seinen Gedanken nach und beobachtete das Geschehen um sich herum kaum. Die Unterhaltung mit dem Praiosgeweihten hatte ihm doch mehr zugesetzt, als er es zunächst glauben wollte. Am schlimmsten war, dass Praiadan die Verfolgung und Ermordung Andersdenkender nicht nur billigte, sondern auch noch aus freien Stücken antrieb. Dies sollte ein Freund, ein Mensch sein? Die Unterschiede zwischen ihnen waren wahrscheinlich doch größer, als der Gelehrte bisher vermutet hatte. Er musste seinen Standpunkt neu überdenken und auch seine nächsten Schritte planen. Praiadan war eine Gefahr für ihn, für sich und für die ganze Gefährtenschaft. Wer mit dem Feuer spielt, der verbrennt sich. Sumudan hatte das zuerst erkannt und war gegangen, Adriego hatte sie ebenfalls verlassen. Sollte er bleiben? Konnte er die anderen im Stich lassen? Oder musste er gerade deswegen bleiben, weil Praiadan ein so großer Unsicherheitsfaktor geworden war?
  Eleon wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als an der Spitze der lose formierten Kolonne laute tulamidische Befehle zu vernehmen waren. Die Kamele formierten sich, jeweils ein Leitkamel mit Reiter für fünf angebundene Lasttiere. Dazwischen konnten sich die Gefährten frei verteilen, während die Karawane dem Schotterweg in Richtung der Dünen am Stadtrand folgte. Die novadischen Reiter auf ihren Shadifs eilten fortwährend von hinten nach vorne, von vorne nach hinten und unternahmen erste Erkundungsritte. Hinter den Gefährten verschwand ganz langsam die Stadt Kannemünde und vor ihnen türmten sich bald die ersten seichten Dünen der Wüste Khom auf.