Kapitel 5, Eleon und Sedrox verbringen die Nacht außerhalb von Kannemünde

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  In Kannemünde erwarben Sedrox und Eleon zwei raue Kutten, mit denen sie nicht auffallen würden. Auch Dragomir nutzte die Gelegenheit, sich wüstentauglich auszustaffieren. Dann trafen sie in der Kaserne auf Hauptmann von Bredering, der ihnen sofort zwei gutmütige Pferde zur Verfügung stellte. Nachdem sie sich am Nordtor mit wenigen Worten von Dragomir verabschiedet hatten, ritten sie schweigsam hinaus in die Dämmerung, passierten zwei kleinere Vororte und einige wenige Bauernhöfe.
  „Eleon“, meldete sich Sedrox endlich zu Wort, „ich habe mich bis jetzt zurückgehalten, doch nun gestatte mir die Frage: Wohin reiten wir? Wir haben nur drei Fackeln und keinerlei Orientierung in der Dunkelheit. Und warum keine Waffen? Phex allein weiß, wer sich heute Nacht alles da draussen herumtreibt.“ Der Zwerg war frustriert, denn nicht nur das ungeliebte Reiten zehrte an seinen Nerven, auch das ungewohnte Schweigen brachte den gesprächigen Angroscho allmählich um den Verstand.
  Eleon blickte zum ersten Mal seit sie die Stadt verlassen hatten auf und lächelte. „Vertrau mir und unseren Pferden, Sedrox. Diese Nacht wird hoffentlich nicht halb so abenteuerlich wie Du sie Dir derzeit ausmalst.“, versuchte er seinen Freund zu beruhigen. „Und hinsichtlich der Waffen: Gehst Du schwerbewaffnet in das gut gesicherte Haus eines Freundes? Ich bitte Dich, versuch Deine verständliche Neugier im Zaum zu halten, denn die meisten der quälenden Fragen kannst Du Dir bald selbst beantworten. Ich werde Dich einweihen, sobald es Zeit und Ort erfordern.“
  Sedrox schluckte eine spontane Erwiderung zähneknirschend herunter und dachte noch eine ganze Weile über Eleons Worte nach. Währenddessen veränderte sich die Landschaft, es wurde dunkler und die Gegend erschien immer unbewohnter und natürlicher. Sie ließen die letzten Reste der Zivilisation hinter sich und steuerten auf einen schemenhaft am Horizont erkennbaren Wald zu, der sich dunkel und bedrohlich vor ihnen aufbaute. Eleon leitete sein Pferd am Rand des Forstes entlang und Sedrox musste ihm unweigerlich folgen. Es war so dunkel, dass selbst der Angroscho Probleme damit hatte, Eleons Vorhaben zu durchleuchten.
  Endlich schien es ihm, als hätte der Gelehrte sein Ziel gefunden, denn er ritt geradewegs auf eine Ansammlung von Felsen am Waldesrand zu. Dort stieg er ab und untersuchte einen merkwürdigen Kreis aus Steinen, der jedoch ungenau und willkürlich angelegt und daher kein Menschenwerk war. „Lass uns Feuerholz sammeln, mein Freund. Dieser Platz genügt für unsere Zwecke.“, brach Eleon schließlich das unheimliche Schweigen.
  Sedrox nickte nur mürrisch, band die scheuen Pferde einige Schritt weiter im Wald an einen stabilen Baum und gab ihnen etwas Futter. Dann unterstützte er den Gelehrten beim Sammeln von Bruchholz, was nicht weiter schwierig war, denn der Wald hatte unlängst offensichtlich einem schweren Sturm Tribut zollen müssen.
  Nachdem das kleine Feuer an ihrem kargen Lagerplatz brannte und sie ihre Schlafsäcke und Decken ausgebreitet hatten, wandte sich Eleon an seinen unzufriedenen Begleiter: „Der erste Teil Deiner Aufgabe ist vollbracht. Wir sind hier und es ist alles vorbereitet. Die letzten Schritte werde ich allein gehen, so ist es vorgeschrieben. Du wartest hier und passt auf, dass das Feuer die ganze Nacht über brennt.“ Sedrox wollte sofort widersprechen, doch der Gelehrte hob abwehrend die Hand. „Ich kann Deine Einwände greifbar spüren, doch sind Deine Sorgen grundlos. Dies hier ist das Haus meines Freundes und nur ich darf es gefahrlos betreten. Deine Aufgabe ist es, über mich zu wachen und niemanden auf diesem Weg in den Wald zu lassen.“, erklärte Eleon und wies mit der rechten Hand in den Wald hinein.
  „Und noch etwas: Egal was Du in dieser Nacht vom Wald vernehmen wirst, bitte bleib hier. Es geschieht nichts, was ich nicht will. Du bist mein Begleiter und hiermit…“, der Druide berührte Sedrox an der Stirn, „…zeichne ich Dich. Von nun an bist Du für die Dauer dieser Nacht sicher, doch musst Du dies auch annehmen. Deine eigene Meinung zählt von diesem Augenblick an nicht mehr. Darum mussten wir ohne Waffen ausziehen. Du lässt geschehen, was geschieht. Alles muss Dir gleich sein. Das Schöne wie das Hässliche, das Gute wie das Böse, das Törichte wie das Weise. Vergiss das niemals! Ich verlasse mich auf dich, mein Freund.“
  Sedrox war flau im Magen, doch seine zuvor so vehement an die Oberfläche platzenden Einwände waren auf eine Art und Weise weggewischt, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Tiefe Ehrfurcht ergriff den Zwergen, auch wenn er bei weitem nicht alles verstanden hatte, was sein Freund ihm da gerade erzählt hatte. Daher nickte er lediglich schweigend.
  Eleon blickte nochmals zum klaren Sternenhimmel auf, entzündete eine der mitgebrachten Fackeln am Lagerfeuer, steckte sich eine zweite in seinen Beutel und ging mit sicheren Schritten in das Dunkel des Waldes. Nach kurzer Zeit konnte Sedrox nur noch ein vereinzeltes Aufblitzen des Feuerscheins zwischen den Bäumen ausmachen, sonst war alles dunkel und still. Ihm wurde kalt und er wickelte sich in seine Decke ein. Als er kurz darauf das Feuer schürte und ein paar Äste nachlegte, fühlte er sich mit einem Mal beobachtet und ein kalter Schauer lief seinen Rücken herunter.
  Sedrox saß schon eine geraume Weile nachdenklich am Lagerfeuer und starrte in die willkürlich zuckenden Flammen. Eleons Worte kreisten in seinen Gedanken, denn er hatte den Druiden noch nie so eindrucksvoll erlebt. Allerdings behagte es ihm gar nicht, dass er nun hier irgendwo am Waldrand herumhockte und im Ernstfall nicht mal wusste, wo er Hilfe suchen könnte. Die Pferde schnaubten immer wieder unruhig, als wäre auch ihnen diese eigentümliche Situation nicht geheuer. Wie konnte er sich nur auf so ein aberwitziges Abenteuer einlassen, waffenlos, schutzlos, von jeder Unterstützung abgeschnitten? Auf Eleon zu warten, der schon vor einer Ewigkeit spurlos im Wald verschwunden war?
  Auf solchen Winkelzügen kreisten die Gedanken des Angroscho, als er plötzlich vom Wald her ein lautes Knacken hörte. Erschrocken fuhr er auf und griff reflexartig zu seiner nicht vorhandenen Axt. Erneut verfluchte er die Situation und schnappte sich einen der vielen herumliegenden Steine. Sofort fühlte er sich etwas sicherer, doch als das Knacken sich wiederholte und von einem Rascheln und Knurren begleitet wurde, verließ den tapferen Zwerg doch gehörig der Mut. Er krampfte die Finger um den Stein und versuchte mit seinen Augen die Schwärze jenseits des Feuerscheins zu durchdringen.
  Dort! Ein unförmiger Schatten bewegte sich langsam auf das Feuer zu. Was auch immer das war, es roch das Fleisch, welches Sedrox als Proviant mitgenommen hatte und gerade über dem Feuer röstete. Er erhob sich vorsichtig und wich ein paar Schritte zurück, um das Feuer zwischen sich und den Angreifer zu bringen. Der Angroscho hob den Stein, um seinen Angreifer abzuschrecken, als er bemerkte, dass es sich um einen Wolf handelte. Doch noch immer klangen Eleons Worte in seinen Ohren nach. Das Raubtier bezog knurrend auf der anderen Seite des Feuers Stellung und beide belauerten sich. Sedrox nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging langsam auf das Feuer zu.
  Noch während er über seine beklemmende Situation nachdachte, starrte er fassungslos auf die Bewegungen seiner Hände, die nun eines der Fleischstücke aus dem Feuer nahmen. Innerlich hatte er sich aufgrund von Eleons Worten schon längst entschieden, doch alles, was an Erfahrung und gesundem Zwergenverstand in ihm vorhanden war, rebellierte gegen das, was sein Unterbewusstsein gerade tat. Dennoch, nach unendlich lang erscheinenden Momenten, warf er dem Wolf das Stück Fleisch vor die Füße. Dieser sprang zunächst ein paar Schritte in Deckung, kam dann jedoch blitzschnell zurück und schnappte sich die Beute. Gierig wälzte er sie auf dem Erdboden, da sie ihm scheinbar zu heiß war, doch dann schlang er sie in einem Stück herunter. Ein letztes Mal schaute das Tier zu Sedrox auf und der Zwerg meinte fast, einen ungläubigen Blick zu erkennen, dann verschwand der Wolf wieder im Wald.
  Die direkte Gefahr war vorbei und erst langsam realisierte der Angroscho, dass er gerade mit einem gefährlichen Raubtier sein Essen geteilt hatte. Diese Erkenntnis erschütterte ihn zutiefst und zunächst zweifelte er stark an sich selbst. Bisher hatte er Wochen auf einem Schiff überlebt, sich von dämonischen Zauberern besiegen, von Feinden und gefährlichen Gefährten ungestraft beleidigen lassen und nun auch noch diese seltsame Erfahrung. Doch dann, als er vollends der Verzweiflung anheimzufallen drohte, merkte er wie sich seine Muskeln entspannten und er zu lächeln begann. Das Groteske an der Situation hatte letztlich die Oberhand über seinen Verstand gewonnen. Wenn er dieses Abenteuer jemals überleben sollte, dann hätte er Erzählstoff bis an sein Lebensende. Dies war doch irgendwie ein beruhigender Gedanke. Gerade für einen Zwerg.
  Einige Stunden später, Sedrox war gerade mal wieder eingenickt, vernahm er plötzlich von weit weg ein unterdrücktes Stöhnen und die heisere Stimme Eleons. Als er aufschaute musste er sich sehr zurücknehmen, um nicht laut aufzuschreien, denn der Zustand seines Freundes war mehr als nur besorgniserregend. Seine Gestalt wirkte kraftlos und äusserst schwach, sein Gesicht war blass wie das eines Kranken, seine zitternden Hände klammerten sich um seinen Stab, mit dem er sich mühsam vorwärtsschleppte. Doch das Erschütterndste war für den Zwerg der Blick des Druiden: Seine Augen wirkten trüb und erschöpft, traurig und doch voller Tiefe. Ein erneutes Stöhnen riss ihn aus seiner Schreckensstarre und er eilte Eleon entgegen, dem just in diesem Moment die Kräfte endgültig zu verlassen schienen.
  Als Sedrox ihn zum Aufwärmen neben das Feuer gebettet hatte, deutete Eleon wortlos auf das noch immer auf schwacher Flamme brutzelnde Fleisch. Er gab seinem Freund davon und der Druide verschlang es an einem Stück, beinahe wie der Wolf vor wenigen Stunden. Nur langsam normalisierte sich die Hautfarbe Eleons und sein Atem wurde stabiler. Sedrox hatte so viele Fragen, auf die er Antworten begehrte, doch aus Respekt vor Eleon hielt er sie zunächst zurück. Als der Morgen jedoch dämmerte und der Gelehrte noch immer schweigend am Feuer saß, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Eleon, was bei den…“, setzte er an, um seine brennendsten Fragen loszuwerden, doch der Druide hob mahnend seine rechte Hand.
  Sedrox freute sich wie ein kleines Kind, als er das gewohnte, leicht angedeutete Lächeln auf den Gesichtszügen seines Freundes erkannte. Dieser schob gerade den Ärmel seiner vor Dreck starrenden Kutte hoch und der Zwerg erkannte staunend, dass die Narbe auf dem Unterarm des Gelehrten verschwunden war. Tränen der Freude traten Sedrox in die Augen und kurz darauf bestiegen sie ihre Pferde und ritten langsam zurück nach Kannemünde. Schon von weitem konnten sie an der Anlegestelle der Beiboote die Person sehen, nach der beiden nach dieser Nacht und den immensen, noch kaum vernünftig einzuordnenden Erfahrungen, am allerwenigsten zumute war.