Kapitel 5, Eleon und Dragomir auf der Trutz von Neersand

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  Firutin schüttelte jedoch den Kopf und beide wünschten sich eine gute Nacht. Auf dem Weg zur Kombüse fiel Dragomir jedoch der Lichtschein auf, der unter der Tür zu Eleons Kabine hervorschimmerte. Ohne eine Reaktion auf sein leises Klopfen abzuwarten, öffnete er die Tür. Ramon schlief bereits in seiner Koje, Sedrox war wohl noch drüben bei Adriego, Curthan und Numba. Der Gelehrte hingegen lag in wollener Unterkleidung auf seinem Bett und studierte eine Pergamentrolle und eine kleine Karte, zu denen er sich in einem kleinen Buch kurze Notizen und Anmerkungen machte.
  „Guten Abend, Dragomir“, sprach er leise, um den leise schnarchenden Ramon nicht zu wecken und legte seinen Bleistift und das Büchlein beiseite. „Entschuldigt, ich habe Euer Klopfen gar nicht vernommen. Wenn Ihr kommt, um Euch nach unserem Befinden zu erkunden, dann seid beruhigt. Ich habe mich ausgiebig um Ramons Wunden kümmern können. Auch mir ging es nach einem Tee wieder einigermaßen. Leider gibt es gegen zu starken Alkoholgenuss noch kein Allheilmittel.“
  Dragomir war breitbeinig in der Tür stehen geblieben, mit vor der Brust verschränkten Armen und ohne eine Miene zu verziehen. „Zeit zu reden.“, forderte er Eleon mit einer Eindringlichkeit auf, die keinen Widerspruch duldete.
  Mit einem genervten Gesichtsausdruck legte der Druide Notiz, Karte, Büchlein und Stift zusammen, kletterte aus seiner Koje und folgte dem Anführer der Expedition auf den Flur. Gemeinsam machten sich beide auf den Weg zur Kombüse und während Dragomir dort in Töpfe und Schüsseln spähte, um noch einen Happen Braten oder Kartoffeln abzubekommen, versuchte Eleon das Gespräch in seinem eigenen Sinne zu gestalten und kam dem Freiherrn zuvor: „Lasst uns offen reden, Dragomir. Mir ist keinesfalls entgangen, dass Ihr mir seit jener Schlacht nur abweisend und nahezu feindlich begegnet. Dürfte ich Eure Gründe erfahren?“
  Der Angesprochene reagierte nicht sofort, sondern nahm in Ermangelung von Resten des Abendessens Käse, Schinken und Brot aus dem Vorratsschrank, dazu einen Teller und ein Messer aus dem Regal auf der anderen Seite der kleinen Kombüse und setzte sich dann an den ebenfalls recht schmalen Tisch. Mit dem Messer in der Hand bedeutete er Eleon, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Doch der Gelehrte reagierte nicht wunschgemäß, sondern verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Bust und lehnte sich an den Türrahmen.
  „Ah, Ihr wollt stehenbleiben.“, bemerkte Dragomir kühl und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. „Nun, Ihr dürft stehenbleiben.“ Es war unverkennbar, daß der anstrengende Tag bei ihm seine herrische Seite, den Bronnjaren hervortreten ließ. Eleon seufzte leise, das konnte ja heiter werden. Innerlich bereitete er sich auf eine heftige Standpauke vor.
  „Ich bin Euch keinesfalls feindselig gestimmt, Eleon, im Gegenteil. Allerdings hat Seine Gnaden Praiadan vorhin in der Hafenwache ein interessantes Thema angeschnitten: Den Ton. Ich habe ebenfalls den Eindruck, dass Ihr Euch desöfteren im ebenjenem vergreift.“, fuhr Dragomir fort, sich Wein aus dem bereitstehenden Krug in einen Becher gießend. „Nach dem Gefecht mit der Faust habe ich es auf die allgemeine Aufregung geschoben, aber dann…“ Dragomir unterbrach sich kopfschüttelnd selbst. „Wir beide kommen aus dem Bornland, nicht wahr?“
  Eleon quitierte die rhetorische Frage mit einem Nicken.
  „Dann solltet Ihr wissen, wer Ihr seid und wer ich bin. Ich sagte Euch schon einmal, dass Ihr Euch Maßregelungen und Belehrungen wie heute nachmittag in der Hafenmeisterei mir gegenüber sparen könnt. Von den drei Geweihten will ich gar nicht erst reden. Ich weiß selbst, daß wir übermäßig Aufmerksamkeit erregten und es immer noch tun.“ Er schnitt sich etwas Käse zurecht. „Statt uns nachzulaufen und Geschichten von Flüchen aller Art in der Welt herumzuposaunen, wäre es ratsamer gewesen, Euch nicht in unserer Gegenwart zu zeigen, sondern uns als Ablenkung zu benutzen, um eigene Nachforschungen bezüglich unseres Ziels zu betreiben. Von mir aus auch über die derzeit seltsame Situation Kannemündes.“ Dragomir legte die Käsescheibe fein säuberlich auf sein Brot. „Dergleichen in der Hafenwache: Zum einen kann ich mich nicht daran erinnern, Euch erlaubt zu haben, mich nur bei meinem Vornamen anzureden. Schon gar nicht in jener Art und Weise gegenüber einem mir untergebenen Offizier. Zum anderen war es vollkommen überflüssig und unserer Sache sicherlich kaum dienlich, Seine Gnaden Praiadan bis auf’s Mark zu reizen.“ Seine linke Hand griff nach dem Schinken und mit der rechten schnitt er sich eine dünne Scheibe ab. „Kurz und gut: Ich besitze meine Titel nicht nur ob meines Geburtsrechts, sondern auch wegen meiner Verdienste. Ebenso wie ich es Euch gegenüber tue, könnt Ihr also getrost annehmen, dass ich mein Handwerk verstehe. Ich werde Euren Rat immer gerne beherzigen, aber achtet demnächst auf Euren Ton!“ Der Freiherr griff nach einem Schüsselchen mit Tomaten, dass er unter einem Tuch auf dem Tisch entdeckte und hielt es Eleon hin: „Tomate?“
  Der Gelehrte hatte sich die Worte Dragomirs ruhig und geduldig angehört und hätte gerne hier und da etwas angemerkt, doch mit dem Fortgang des Gesprächs hatten sich seine Züge verhärtet. Auch wenn das Gemüse mit der Standpauke nichts zu tun hatte, musste sich der Druide sehr überwinden, eine der gereichten Tomaten anzunehmen. „Wie immer Ihr meint, Hochgeboren.“, antwortete Eleon in einem Tonfall, der hohl und nur oberflächlich respektvoll klang, wie der eines Untergebenen gegenüber seinem ungeliebten Herrn. „War das alles, Hochgeboren?“
  Dragomir zog die Schüssel mit den Tomaten unwirsch zurück und zog verdutzt die Brauen zusammen. „Mir scheint fast, dass Ihr keine Tomaten kennt.“, bemerkte er überrascht und nahm sich selbst eine runde, wohlgeformte aus der Schüssel. Seine Stimme hat nun nicht mehr den Ton einer freundlichen Standpauke oder Aussprache, sondern klang wieder wie gewohnt: Dunkel, aber auch wissbegierig. „Oder mögt Ihr sie nur einfach nicht?“
  Der Freiherr schnitt die Tomate in Scheiben und legte sie auf sein Brot. Zufrieden hielt er das fertige Nachmahl in den Händen und lehnte sich zurück. „Ach so, nein. Das war nicht alles.“ Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel und wirkte gemessen am bisherigen Gesprächsverlauf enorm deplatziert. „Nun setzt Euch schon! Oder wollt Ihr im Stehen essen?“, forderte er den sichtlich irritierten Eleon auf, goss sich Wein nach und füllte auch einen zweiten Becher. „So schlimm ist die Sache ja nun nicht.“ Er hob seinen Becher und reichte dem Gelehrten den anderen. „Wollt Ihr mit mir auf unsere Heimat trinken? Oder ist sie Euch derart unangenehm, dass wir uns einen anderen Trinkspruch suchen müssen?“
  Zögernd setzte sich Eleon, offensichtlich noch etwas verwirrt aufgrund des plötzlichen Stimmungsumschungs seines Gegenübers. Die Bemerkungen mit den Tomaten überging er geflissentlich mit einem Stirnrunzeln, dann aber griff er beherzt zu und nickte als Dank für den dargereichten Becher. „Verzeiht, aber ich glaube unsere Vorstellungen die „Heimat“ betreffend gehen hier doch zu sehr auseinander.“, begann er vorsichtig. „Ich würde stattdessen einen Trinkspruch aus einem anderen Metier wählen, wenn Ihr gestattet, Hochgeboren?“
  „Nur zu, nur zu.“, munterte Dragomir ihn auf und biss herzhaft in sein Schinken-Käse-Tomaten-Brot.
  „Angesichts der Liaison des Herrn Orthogez und der geschätzten Frau Rand würde ich eher auf die Liebe trinken wollen. Sie macht solch schwere Zeiten, wie unsere derzeitige Lage, lebenswert und nahezu angenehm, meint Ihr nicht auch?“ Noch bevor der überrumpelte Dragomir etwas entgegnen konnte, hob er den gefüllten Becher und deklamierte: „Ich trinke auf die Liebe, auf dass sie uns in unseren schwersten Stunden erhalten bleibt, und wir uns ihrer würdig erweisen!“ Ohne Abszusetzen leerte Eleon den Becker und erhob sich. „Nun, da scheinbar alles gesagt ist, möchte ich mich wieder zu Bett begeben und Euch nicht länger mit meiner störenden Anwesenheit behelligen, Hochgeboren. So Ihr wünscht, werde ich Euch morgen früh einen vollständigen Bericht über meine Nachforschungen geben. Angenehme Träume, Hochgeboren.“
  „Nicht jeder liebt sein Vaterland.“, erwiderte Dragomir fast betrübt, als der Gelehrte langsam und leicht wankend von Bier am Nachmittag und Wein am Abend Richtung Tür schlich. „Man kann es nicht jedem recht machen. Wie auch immer. Ihr haltet die Romanze der beiden für ernst?“ Dragomir lachte verhalten. „Aber Ihr habt Recht, das kleinste Fünkchen macht uns Mut und Hoffnung. Trinken wir auf die Liebe, sei es zur Heimat oder zu einer Frau!“ Der Freiherr prostete Eleon zu, der an der Tür verharrte, und trank dann selbst einen ordentlichen Schluck Wein.
  „Nicht alles ist gesagt, Herr Eleon. Eure Anwesenheit empfinde ich keinesfalls als störend.“, bemerkte Dragomir nicht unfreundlich und füllte den Becher des Gelehrten, den dieser an seinem Platz zurückgelassen hatte, wieder auf. Ohne selbst zu wissen, was er tat, setzte sich der Druide wieder hin. „Sagt, Herr Eleon, was ist Eure Vorstellung von unserer Heimat? Hat Euch das Schicksal so arg getroffen, dass Ihr nicht auf Väterchen Born trinken wollt, auf die endlosen Wälder, auf die liebenswerten Seelen dort?“, fragte der Ritter verwundert. In seinen Worten lag ehrliches Interesse, zum einen an der Person Eleons, zum anderen daran, die Sache aus der Welt zu schaffen, bevor es in die Wüste ging.
  Der Gelehrte nahm den gefüllten Becher wieder auf und sagte leise: „Auf die liebenswerten Wälder und Seelen trinke ich. Aber wenn Ihr es schon so betont, sagt mir doch bitte noch einmal genau, wer Ihr seid und was Eure Stellung bei Hofe ist, Hochgeboren.“ Beide stießen an und stellten dann ihre Becher ab.
  „Dragomir, Freiherr zu Firunwald, Ritter der Krone. Ich bin Erster Adjutant des Rüstmeisters, als solcher auch Berater der Adelsmarschallin und meist Ihrer Exzellenz Emissär in speziellen Angelegenheiten, wie dieser Reise hier.“, kam der Anführer der Mission der Bitte Eleons nach. „Ihr seid mir noch eine Antwort schuldig.“
  Wiederum verhärteten sich die Züge des Druiden, denn es war ihm zuwider, dass ein Mensch aus einer Ansammlung von Titeln und Stellungen eine moralische Überlegenheit ableitete. Zu leicht verlor sich diese Erhabenheit in Tyrannei und Unterdrückung von Schutzbefohlenen. „Eine Antwort? Oh ja, meine Abneigung richtet sich nicht gegen das Land, wie Ihr Euch sicher denken könnt.“ Eleon schwieg einige Momente lang. „Aber wie dem auch sei, es hat sicher nichts mit Euch zu tun. Ich bin mir sicher, auch Ihr besitzt eine Vergangenheit, Freiherr Dragomir zu Firunwald, wenn ich so offen sprechen darf. Gestattet es mir bitte, die meinige für mich behalten zu wollen. Ich werde Euch keine weiteren Schwierigkeiten machen. Einverstanden, Hochgeboren?“ Der Gelehrte reichte seinem Gegenüber die Hand, um die Abmachung zu besiegeln.
  „Ihr habt Recht, jeder hat seine Geschichte. Und jede Geschichte hat Ihre Schwierigkeiten.“, stellte Dragomir schmunzelnd fest. „Und wenn diese Schwierigkeiten so gering bleiben wie ein misslicher Umgangston, soll es mir Recht sein.“ Er griff nach der Hand des Druiden und drückte kräftig zu. „Schlaft gut, Eleon aus dem Märkischen, damit wir unsere gemeinsame Geschichte ausgeruht meistern können.“ Während sein Gesprächspartner aufstand und aus der Kombüse wankte, biss Dragomir abermals beherzt in sein Brot, das so lange schon verlockend vor ihm auf dem Teller gelegen hatte.
  Eleon hingegen ging nachdenklich zurück zu den Kabinen und dachte angestrengt über die Worte des Freiherrn nach. Hatte er sich wirklich so falsch verhalten? Waren sie sich nicht durch die gemeinsam durchstandenen Gefahren näher gekommen? Wenn es erwünscht war, dann würde er sich eben wieder haarklein an Etikette und erwünschte Verhaltensmuster halten – naja, er würde es jedenfalls versuchen. Dennoch würde er morgen nach seinem Bericht ihren Anführer wohl fragen müssen, ob er sich noch immer zu dieser Gesellschaft rechnen durfte. Scheinbar hatte jeder Fremde, der in der Taverne ein wenig lange Ohren machte, schmeichelnde Worte fand und ein großes Schwert besaß, mehr Vertrauen verdient als er mit seinen besorgten Ratschlägen. Aber es gab Wichtigeres und Eleon widmete sich in seiner Kabine erneut der Karte und dem Pergament. Beides kopierte er sorgsam in seinem Notizbuch, für alle Fälle.
  Auf der Brücke stand Dragomir mittlerweile an der Steuerbordreling und genoss versonnen den Aufgang der Praiosscheibe, der in seiner Erhabenheit und Würde selten so einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Aus dem Augenwinkel nahm er mit einem Mal Eleon wahr und seufzte innerlich, als er sich von dem herrlichen Anblick losreißen musste. „Guten Morgen, Eleon...“, begrüßte er den Druiden freundlich und der Gelehrte nahm Haltung an. Der Freiherr verdrehte die Augen und lächelte amüsiert, dann bedeutete er dem Druiden, mit ihm zu Kapitän Borsoj auf die andere Seite der Brücke zu gehen. Als er Eleon jedoch ins Gesicht schaute und in seinen Augen lesen konnte, dass dieser noch etwas auf dem Herzen hatte, schob sich die schon fast vergessene Erinnerung an das nächtliche Gespräch des Druiden mit Sedrox wieder in sein Bewusstsein.
  „Hochgeboren, die gestrigen Erlebnisse und Gespräche gaben mir Anlass zum Nachdenken. So Ihr wünscht werde ich Euch nun einen vollständigen Bericht zu meinen Nachforschungen in Kannemünde vorlegen. Ich verspreche Euch, es ist sehr interessant.“
  „Ich dachte, Ihr hättet schon alles erzählt bezüglich des Mordes in der Gasse?“, kommentierte Dragomir stirnrunzelnd und vorsichtig das Schriftstück, dass Eleon ihm entgegenhielt. „Es war doch nicht nötig, alles schriftlich festzuhalten.“ Doch sofort fiel ihm auf, dass das hier nicht der angekündigte Bericht war, sondern etwas anderes. Sein Blick fiel auf das gebrochene Siegel, seine Brauen zogen sich erneut unwillkürlich zusammen und er warf Eleon einen skeptischen Seitenblick zu. Der Ritter entfaltete das Pergament und seine Augen flogen förmlich über die Zeilen. „Habt Ihr das gelesen? Warum gebt Ihr mir das jetzt erst?“
  Der Gelehrte setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf, das jedoch auch keinen Zweifel darüber ließ, dass er sich dennoch im Recht wähnte. „Ich habe nicht alles gesagt, weil ich mir der einzelnen Tatsachen noch nicht endgültig bewusst war. Zudem war ich in einigen Punkten nicht vollständig aufrichtig.“, legte Eleon nun den gesamten Sachverhalt dar. „Als der Mord geschah war ich wirklich körperlich eingeschränkt. Ich befand mich in einer Art Trance, die ich auslösen kann, um meinen Gedanken einen erweiterten Horizont zu ermöglichen. Sie ist zu verwirrend und visionär um sie zu beschreiben. Ich sah zum Beispiel gleichzeitig Euch beim Essen in der Messe, Sumudan unterwegs in den Straßen Kannemündes und den Mordhergang.“
  Eleon pausierte kurz, um Prätor Rondrik mit einer Verbeugung zu begrüßen, als dieser auf die Brücke zurückkehrte. „Als ich aber am Tatort ankam war dem Mann nicht mehr zu helfen, jedoch konnte ich den Mördern sozusagen im Moment der Tat ins Gesicht sehen und wusste sofort um die Wichtigkeit dieses Schriftstücks hier.“
  Dragomir reichte das Pergament an den Geweihten weiter und runzelte die Stirn, gespannt auf mehr Informationen, auch wenn er sie noch nicht ganz durchschaute.
  Eleon hingegen fuhr gelöst fort, froh bei dem Gedanken, endlich reinen Tisch machen zu können: „Auch wusste ich, dass Hauptmann von Bredering mir diese Version niemals glauben würde und erfand daher eine neue. Ich war mir nicht sicher, ob wir ihm in dieser Situation trauen konnten, also behielt ich die Karte und machte heute Nacht eine Kopie, nur für den Fall, dass das Original…“, der Gelehrte reichte Dragomir nun auch das zweite Schriftstück, offenbar eine grob skizzierte Landkarte, „…uns abhanden kommt. Heute früh half mir Sedrox bei der Übersetzung und der Decodierung der Karte.“
  Die umfangreichen und überraschenden Informationen ließ der Druide erst einmal wirken und fuhr erst fort, als Rondrik ihm gespannt auf weitere neue Aspekte ermunternd zunickte. „Ich denke, dass ich die Mörder wiedererkennen werde, der Zweite besitzt übrigens eine deutliche Narbe auf der rechten Wange, und ist einäugig. Auch bin ich mir bewusst, dass ich indirekt Ramon erst in Gefahr gebracht habe. Ich kann mir denken, dass es nur schwer zu glauben ist, doch ich sage die Wahrheit. Hinsichtlich unseres Mals konnte ich leider keinen Erfolg erzielen, da selbst die örtliche Perainegeweihte außer Gebeten keine Hilfe wusste.“
  Er dachte kurz nach und blickte Dragomir dann traurig an. „Ihr erkennt hoffentlich, dass ich nur versucht habe, im Sinne unserer Gesellschaft zu handeln, doch nach Euren gestrigen Worten bin ich mir nicht mehr sicher, ob meine Anwesenheit und Unterstützung noch erwünscht ist. Ich überlasse Euch hiermit meinen Kenntnisstand und bitte Euch um eine Entscheidung zu meiner Person. Ich habe bereits mein Hab und Gut gepackt und kann das Schiff jederzeit verlassen, wenn Ihr dies wünscht.“
  „Interessant.“, kommentierte der Freiherr knapp. „Und bedauerlich.“ Eleon musste schlucken und wartete gespannt auf die Entscheidung Dragomirs. Dessen Blick wanderte über das Meer, wo die Praiosscheibe bereits halb über dem Horizont stand und mit ihrer Kraft die Wolken zu vertreiben schien. Doch dann begann er leise zu lachen und schüttelte ungläubig den Kopf. Rondrik runzelte irritiert die Stirn, doch dann sprach Dragomir endlich weiter: „Einen Dämon werde ich tun, aber Euch bestimmt nicht fortschicken. Warum auch? Ich habe Euch gehörig unterschätzt, Eleon. Euer Verhalten in Kannemünde sollte mir gegenüber nicht despektierlich sein, sondern war nur der mühsam zurückgehaltenen Geheiminformationen zu verdanken, die aus Euch rausplatzen wollten.“, relativierte Dragomir seine harsche Beurteilung aus dem nächtlichen Gespräch. „Wenn Ihr allerdings kein Interesse mehr daran habt, uns zu begleiten, dann kann ich Euch nicht aufhalten.“, fügte er schmunzelnd hinzu und schlug Eleon kameradschaftlich auf die Schulter. „Ich schlage allerdings vor, wir geben den Gefallenen die letzte Ehre und gehen dann frisch und frohen Mutes ans Tagwerk!“
  Große Erleichterung schlich sich in das Gesicht des Gelehrten und er brachte sogar ein kleines, verschmitztes Lächeln zu Stande. „Ich danke Euch für Euer Verständnis, Hochgeboren. Nun, die Karte habt Ihr, auch meine Informationen. Wichtig wäre noch, dass ich die Vermutung hege, wir könnten demnächst unliebsame Bekanntschaften machen, jetzt wo wir die Originale besitzen. Also habe ich gestern Nacht mit meinen bescheidenen Möglichkeiten Kopien angefertigt. Das Problem mit meinen Visionen ist, dass man nichts mit Bestimmtheit sagen kann und sich erst langsam wieder in der Realität zurechtfinden muss.“, erläuterte Eleon seine Ableitungen aus den gemachten Entdeckungen. „Ich werde weiterhin an Eurer Seite stehen, nun da wir dies geklärt haben. Ich hätte nicht vermutet, dass meine Worte ein derart negatives Bild von mir in Euch auslösen könnten.“ Er lächelte nun offen heraus und nickte Dragomir freundlich zu. Doch dann verfinsterte sich seine Miene schlagartig. „Ist Seine Gnaden Praiadan noch zurückgekehrt?“, erkundigte sich Eleon vorsichtig.
  „Nein, er ist an Land geblieben. Aber jetzt wo Ihr es ansprecht…“, der Freiherr nahm den Gelehrten bei Seite zum Flaggenstock, wo sie ungestört reden konnten, „… ich erwähnte gestern, dass wir möglicherweise einen Hinweis auf die Wirkung der Wunde erhalten haben, als sich Seine Gnaden auf Euch stürzte.“
  „Ihr vermutet er war nicht mehr er selbst?“, schloss Eleon aus dem Gehörten. „Aber natürlich, der Blutzauber könnte die Wirkung negativer Gedanken verstärken!“
  Dragomir nickte zustimmend und merkte an: „Das würde einige eigentümliche Verhaltensweisen seit der Seeschlacht erklären. Sumudans abrgundtiefe Depression, Praiadans Ausraster, Adriegos Stimmungsschwankungen, sogar Ramons übertriebenen Herzschmerz.“
  „Beunruhigend…“, setzte Eleon an, doch dann stieß Borsoj zu ihnen.