Kapitel 4, Eleon und Sedrox auf der Trutz von Neersand

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  Sedrox hatte sich an die Steuerbordreling gestellt und starrte gebannt auf die erwachende Hafenstadt Neersand, keine hundert Schritte entfernt von der Ankerposition der Trutz von Neersand. Sollte er doch noch das Schiff verlassen? Die Option war verlockend, doch würde sie die Trennung von Karima und Numba bedeuten. Und wie sollte er ohne eine weitere Seepassage aus einem feindlichen Kriegshafen im tiefsten Winter wieder wegkommen? Der Zwerg nahm seinen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und starrte an der Brustwehr hinab auf das dunkle Wasser. Hastig zog er sich zurück in die Sicherheit des Oberdecks und atmete tief durch.
  „Ich freue mich, dass Ihr Eure Bedenken erneut über Bord werfen konntet, Sedrox.“ Eleon war zurück an Deck und hatte sich zu ihm gestellt, seinerseits einen Blick auf den Hafen werfend, in dem nun eine Laterne nach der anderen entzündet wurde. „Jeder weiß, wie viel Selbstüberwindung es einen Angroscho kostet, eine solche Fahrt auf sich zu nehmen. Aber Ihr schaut wahrlich nicht erfreut aus. Überlegt Ihr noch, von Bord zu gehen?“
  Sedrox schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde bleiben. Ich kenne mich hier im Norden überhaupt nicht aus. Ich muss mich jedoch später mit dem Kapitän unterhalten, wo wir überall Zwischenhalte einlegen werden.“
  „Vielleicht kann ich Euch helfen.“, bot Eleon seine Hilfe an. „Gegen die Übelkeit auf See wüsste ich ein Kraut, welches ich bei mir trage. Es wird als Tee bereitet und beruhigt den Magen, sodass Ihr Euch deswegen keine Sorgen mehr machen bräuchtet. Was meint Ihr? Wollt Ihr es versuchen?“
  Der Angroscho blickte den Gelehrten skeptisch an, doch die Erinnerung an die Reise nach Festum ließ ihm keine andere Wahl. „Einverstanden. Ich habe nichts zu verlieren, wenn ich schon zumindest für eine Weile noch an Bord bleibe.“
  „Ihr müsst Euch ja nicht sofort entscheiden. Trefft Eure Entscheidung in aller Ruhe. Ich werde mich nun nach heißem Wasser für Euren Tee und dem Frühstück erkundigen. Vielleicht erfahren wir zu Tisch, vor welchem Hintergrund wir unser Ziel im Süden ansteuern.“ Eleon klopfte dem kleineren Gefährten kameradschaftlich auf die Schulter und ging nach achtern in Richtung Kombüse. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Zwerg, dass der Blick des Prätors weiter auf ihn gerichtet war.
  Kurz vor Mitternacht zogen sich die ersten Wolken zusammen und der Wind drehte auf Südost, so dass die „Trutz von Neersand“ mühsam kreuzen musste, um ihren Kurs zu halten. Auch der Seegang nahm kräftig zu und einigen der Gefährten wurde flau im Magen. Sedrox weckte daher noch in der Nacht seinen Zimmergefährten Eleon auf, der im Halbschlaf in seiner Koje lag. „Verzeiht die späte Störung, Eleon. Habt Ihr für mich noch ein wenig von den Kräutern? Es ist wieder Zeit für einen Tee, fürchte ich.“ Der Zwerg lächelte gequält, war aber erleichtert als der Gelehrte aufstand und zu seinem Kräuterbeutel im Regal ging. „Von woher habt Ihr eigentlich diese Wundermittel?“
  Eleon musste lächeln. „Mein Tee scheint Euch ja vortrefflich zu bekommen. Natürlich... sicher werdet Ihr durchkommen, meine Liebe...“, murmelte er im Halbschlaf liebevoll vor sich hin.
  „Was habt Ihr gerade gesagt?“, erkundigte sich der verwirrte Angroscho skeptisch, als er sich der Aufmerksamkeit des Gelehrten sicher glaubte.
  „Oh, das sind nur Schatten der Vergangenheit, vielleicht aber auch nicht.“, antwortete Eleon vorsichtig und kratzte sich nervös am Kopf. „Meine Gedanken weilen zu oft in der Vergangenheit, gerade wenn ich nicht ausreichend Schlaf bekomme. Aber ich verwirre Euch, verzeiht mir. Lasst uns nach heißem Wasser in der Kombüse schauen, ja?“, wechselte Eleon das Thema und Sedrox nickte eifrig zustimmend, als erneut ein Krampf wie ein Messer durch seine Eingeweide fuhr. „Sagt, warum habt Ihr Euch für ein Abenteurerleben entschieden? Wenn ich Euch mit dieser Frage nicht zu nahetrete.“, erkundigte sich der Gelehrte vorsichtig.
  „Oh nein, keine Sorge. Ihr tretet mir dabei nicht zu nahe. Ich ging auf die Akademie zu Xorlosch, wie schon meine Väter und dann hat es mich hinaus in die Welt verschlagen. Über einige Umwege bin ich dann auf diesem Schiff gelandet, der letzte Ort auf Dere, den ich eigentlich besuchen wollte.“ Sedrox sprach offen und aufrichtig, denn er mochte den Neuen in ihrer Runde. „Aber was ist mit Euch? Warum seid Ihr hier? Und von was habt ihr vorhin gesprochen?“
  Eleons Antwort ließ eine Weile auf sich warten, während beide den Aufgang an Deck hinauf und in die Kombüse gingen. „Auch ich hatte einst die Möglichkeit, eine Akademie zu besuchen, doch die Umstände brachten mich auf anderen Wegen zu meinen heutigen Ansichten. Als Medicus habe ich mich der Gebrechen und Sorgen der Menschen angenommen und bin heute als reisender Heiler überall daheim, wo meine Hilfe benötigt wird. Ich setze einfach immer einen Fuß vor den anderen und lasse mich treiben.“ Eleon schwieg, als er Holz für den kleinen Ofen nachlegte und einen milden Seitenblick auf den schlummernden Aleksej warf.
  „Nun, das vorhin…“, begann er, unterbrach sich aber rasch. „Es gab wohl noch eine Zeit, in der ich ein anderes Leben führte. Hin und wieder zieht es mich im Geiste dorthin zurück.“ Eleon stellte eine Kanne Wasser auf den Herd und schürte das Feuer mit einem Haken. „Aber sprecht: Habt ihr keine Familie, die sich um Euch sorgt? Ich habe gehört, dass der Zusammenhalt der Sippe für Euch Zwerge sehr wichtig sein soll. Wie kommt ihr zu dieser Gemeinschaft?“ Es war ihm sichtlich unangenehm, über sein früheres Leben zu sprechen. Daher war er froh, dass Sedrox den Themenwechsel positiv aufnahm.
  „Ich liebe meine Familie und versuche immer wieder, bei ihnen vorbei zu schauen. Leider konnte ich das in den letzten Monaten nicht. Mich hat es einfach von zu Hause fortgerissen, ich wollte sehen, was das Leben außerhalb unserer Höhlen und Städte zu bieten hat.“, antwortete der Angroscho mit einem traurigen Blitzen in den Augen. Dann fixierte er Eleon mit einem neugierigen Blick, als dieser seine Kräuter das heiße Wasser fallen ließ. „Was seid Ihr denn sonst, wenn ihr kein Magier seid?“
  Der Gelehrte schaute ihm freundlich in die Augen und antwortete: „Nun, ich erkannte, dass ich den Menschen besser beistehen kann, wenn ich zu ihnen gehe und mit ihnen die Wurzel ihres Leidens finde. Das bedeutet mir mehr, als mich hinter Büchern und schlauen Redensarten zu verstecken! Ich diene der Natur und helfe den Menschen. Welches Ereignis ließ Euch fortziehen?“
  „Wie gesagt, es war bloß die Lust auf Abenteuer. Ich wollte die Welt sehen und bis jetzt ist es mir ja auch recht gut gegangen. Aber dass ich irgendwann einmal auf einem Schiff in den tiefen Süden fahre, das hätte ich wirklich nicht gedacht.“ Sedrox sah zu, wie Eleon den aufgebrühten Tee vorsichtig in zwei Tassen goss.
  „Was meint Ihr wird uns erwarten, wenn wir dort angekommen sind? Es sollte die Gefahr dorthin zu gelangen jedenfalls rechtfertigen.“, fragte der Gelehrte seinen zwergischen Gesprächspartner und pustete dann in seine Tasse, um den Tee zu kühlen.
  „Ich weiß nicht, was uns da unten erwarten wird. Jedenfalls nicht mehr, als uns Ramon schon gesagt hat. Viel dämonische Brut, nehme ich an. Was denkt Ihr?“
  „Tja, da bin auch überfragt. Doch teile ich den Optimismus unserer Anführer nicht zur Gänze.“ Eleon nahm einen vorsichtigen ersten Schluck, verzog dann aber sofort den Mund. Noch war das Getränk zu heiß. „Meine Sorge ist sicher unbegründet.“, fuhr er fort. „Verzeiht, ich hatte vorhin eine traurige Erinnerung, die mir beweist, dass nicht immer und jederzeit das Gute in der Welt siegen kann.“
  Schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken an Vergangenheit und Zukunft, Heimat und Fremde beschäftigt, schlürften Eleon und Sedrox ihren Tee und begaben sich dann zu Bett. Während sich das Wetter nicht mehr änderte und peitschender Regen in dicken Schauern über das Deck fegte, beruhigte sich der Magen des Angroscho und er fand schnell einen tiefen Schlaf.
  Eleon hörte bald das brummende Schnarchen seines neuen Freundes – und dachte an Maia. Oder Anna? Wie auch immer, das war für ihn vorbei – für immer. Und doch war ihm die Vergangenheit unangenehm nah. Sie schlief eine Tür weiter achteraus.