Kapitel 6, Adriego und Jolinar in der Khom
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Während der Freiherr schon wieder auf einer Düne stand und nach Norden spähte, traf Jolinar nach der Verrichtung eines dringenden Bedürfnisses auf Adriego, der an einem Baum gelehnt seine Mandoline reinigte. Jalessa war bereits auf, so dass die junge Hexe – eigentlich eine Frühaufsteherin, aber das entwickelte sich hier in eine vollkommen andere Richtung – noch bis zum Abbruch des Lagers ungestört schlummern wollte. Doch nach zwei Minuten klopfte es an ihrem Zelt und Adriego fragte höflich: „Fräulein Jolinar? Kann ich Euch sprechen?“ Ihr erster Impuls war ein „schert Euch sonst wohin“, doch dann öffnete sie müde und genervt abermals ihr Zelt. „Ja? Was gibt es?“, raunzte sie den Schwertgesellen an, der daraufhin ziemlich kleinlaut sein Anliegen vortrug. „Ich wollte mich bei Euch entschuldigen.“, bekannte der Almadaner und schaute ihr fragend in die verschlafenen grünen Augen. Die Hexe stöhnte leise auf und fasste sich an die Stirn. „Ihr wollt Euch jetzt bei mir entschuldigen?“, erwiderte sie irritiert. „Findet Ihr die Zeit nicht etwas unpassend? Oder habt Ihr Angst, Euer Gesicht vor den anderen zu verlieren, wenn Ihr Euch am Tag vor aller Augen bei mir entschuldigt?“ „Ich denke oft in der Nacht nach.“, erwiderte er leise und unsicher, „Und Dinge die... Ich konnte nun mal nicht schlafen. Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass es sich bei Hitze auf einem Kamel nicht gut reden lässt.“ Er wollte nicht schon wieder Streit vom Zaun brechen und fuhr daher schnell fort: „Aber ich meine es ernst, ich habe Euch Unrecht getan.“ Jolinar errötete leicht, was jedoch im Dämmerlicht nicht einfach zu erkennen war und machte nervös einen Schritt zurück ins schützende Zelt. „Ich denke es ist besser, wenn wir nun wirklich versuchen zu schlafen!“, versuchte sie erneut, Adriego abzuwimmeln. „Ich halte Euch nicht auf.“, entgegnete Adriego mit einem Anflug von Enttäuschung in seiner Stimme, „Allerdings dachte ich mir, dass das Umgehen miteinander vielleicht leichter wäre, wenn man den anderen... kennen würde. Aber vielleicht sollten wir das tatsächlich ein anderes Mal nachholen, vorausgesetzt Ihr habt überhaupt Lust, mir etwas über Euch zu erzählen, wo Ihr mir doch offensichtlich nicht vertraut.“ Ein verlegenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Vielleicht habt Ihr ja Recht, aber ich wüsste nicht, was ich Euch erzählen könnte... wartet kurz!“, sagte Jolinar und verschwand wieder im Zelt, doch nicht für lange. Einen kurzen Moment später kam sie, noch immer nur mit der weißen Baumwollunterwäsche und der Decke bekleidet, jetzt allerdings auch mit Schuhen, heraus und sagte schon, während sie noch die Zeltplane verschloss: „Wir sollten wohl besser nicht hier zwischen den Zelten reden, sonst wecken wir noch jemanden auf!“ Noch immer schien sie etwas nervös zu sein und lächelte im Gehen sanft zum deutlich größeren Adriego hinauf. „Ich werde nicht einfach so anfangen, über mich zu erzählen.“, eröffnete sie ihm. „Aber ich denke das habt Ihr auch nicht erwartet. Deshalb bitte ich Euch, zu beginnen. Warum seid Ihr auf dieser Mission oder warum seid Ihr überhaupt auf Reisen? Warum wollt Ihr denn jetzt auf einmal unbedingt, dass wir uns verstehen? Doch wohl nicht nur der Gemeinschaft wegen?“ Kurz herrschte Schweigen, als Adriego überlegte, was er darauf erwidern sollte. Währenddessen liefen die beiden in der kühlen Morgenluft eine leichte Düne hinauf. „Warum ich will, dass wir uns verstehen?“, brach der Almadaner das Schweigen schließlich und atmete geräuschvoll aus. „Im Grunde hatte ich nie etwas anderes im Sinn. Allerdings fühlte ich mir sehr... nennen wir es gekränkt in meiner Ehre. Natürlich ist es ein Nebeneffekt, dass man sich in einer Gruppe wie der unsrigen nicht unbedingt zerstreiten sollte.“ Er erkannte einen skeptischen Ausdruck in ihren Augen und fuhr daher schnell fort: „Aber Ihr fragtet, warum ich auf Reisen bin. Nun, die allermeisten Aventurier sehen ihr Leben lang nicht mehr als das heimische Dorf und glauben, alles über die Welt zu wissen. In meinen Augen sind jedoch Hesinde, Nandus und Aves ebenfalls Götter, nicht nur Praios und Peraine. Ich kann doch nicht als alter Greis sterben und nichts von dieser herrlichen Welt gesehen haben, obwohl ich das Glück hatte, in der schönsten und buntesten Stadt der Welt aufgewachsen zu sein.“ Ein verträumter Blick begleitete seine Erinnerungen an Punin. „Abgesehen davon gibt es eine Menge Unrecht, gegen das ich versuche vorzugehen. Aber ich würde mir nicht anmaßen, mich als eine Art Retter aufzuspielen oder ähnliches.“ Auch wenn dieser Idealismus beeindruckend klang, ließ Adriegos Mimik sie ahnen, dass das wahrscheinlich nicht alle Gründe sein konnten. Für einen Moment war es still und kein Wort drang über Jolinars Lippen. Über vieles schien sie sich Gedanken zu machen, einiges, das sie nicht verstand und anderes, das sie anscheinend etwas zornig machte. Doch als sie sprach, klang ihre Stimme so ruhig wie zuvor: „Habt Ihr denn nichts, was Euch Zuhause hält?“ „Ich habe eine Familie, wenn Ihr das meint.“, antwortete der Almadaner ein wenig traurig. „Aber meine Eltern, sie sind niemals froh darüber gewesen, dass ich auf die Schwertgesellenschule ging, weshalb ich auch…“, er verschluckte den letzten Teil des Satzes, „...kein reicher Mann bin. Und ich weiß nicht, was sie sagen würden, wenn ich eines Tages aufkreuzen würde. Mit meinem Bruder hatte ich niemals ein gutes Verhältnis, nur mit meiner Schwester.“ Das war knapp, denn ein ehrbarer Mann aus Almada sprach nicht vor Frauen über Geld, vor allem nicht über Schulden! „Aber egal, die Frage sollte nicht lauten, ob mich etwas zu Hause hält. Vielmehr ob es nicht mehr ist als das, was mich hier hält.“ Er hob leicht den Arm mit der Narbe und richtete seinen Blick immer wieder traurig in die Ferne. „Ja, vielleicht wollte ich wirklich das fragen.“, stimmte sie ihm nachdenklich zu, doch mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie es wirklich wissen wollte. „Ihr müsst es nicht erzählen, wenn Ihr nicht wollt! Aber ich werde zuhören und es für mich behalten.“ Sie blickte treuherzig zu ihm auf und er erwiderte ihren Blick. „Nun, scheinbar ist es wahr, dass mich dieses Mal daran hindert, zu gehen. Aber ich fühle mich einigen hier auch sehr verbunden und ich will es diesen niederhöllischen Dämonenschergen heimzahlen.“, bemerkte Adriego selbstbewusst. „Was wollt Ihr ihnen heimzahlen? Haben sie Euch so Schlimmes angetan?“, fragte Jolinar und sah ihn erwartungsvoll, für seinen Geschmack etwas zu erwartungsvoll an. Aber sie machte sich auch auf eine wütende Antwort gefasst, denn eigentlich ging es sie ja nichts an. Er verstand nicht, was sie dachte. Sollte ihn vielleicht ein Dämonenpakt hier halten? Glaubte sie denn so etwas immer noch? Ruhig, fast schon gleichgültig antwortete er: „Was sie mir angetan haben? Mir persönlich? Nicht sehr viel. Aber schon ihre Existenz ist ein Frevel gegen die zwölf Götter und all die Tausend anderen Unschuldigen, die durch sie gefallen sind oder unterdrückt werden, sollten einem ehrbaren und freien Aventurier nicht egal sein.“ Diese Antwort kam aus vollem Herzen und brachte ein Leuchten in seinen Augen zum Vorschein. „Abgesehen davon habe ich selbst in einem blutigen Massaker an Bord der „Faust von Maraskan“, dem Flaggschiff von diesem Dämonenschergen Helme Haffax, gekämpft und sie sind noch nicht einmal davor zurückgeschreckt, ein Horrorwesen auf uns zu hetzen. Einen Zant! Während neben mir unschuldige bornische Seeleute fielen, überlebte auch ich nur mit Glück und dank meiner guten Ausbildung. Wie viele habe ich wohl in dieser Schlacht getötet? Aber das ist etwas anderes, als wenn man einen Wegelagerer umbringt, der Menschen ausraubt, weil er von der Hand in dem Mund lebt und Frau und Kinder hat. Es ist wie wenn man direkt gegen das Böse kämpft und doch: Es waren Menschenleben.“ Adriego verstummte für eine Weile und Jolinar ließ die Zeit nachdenklich verstreichen. „Dank ihnen kann ich nicht nach Hause.“, setzte Adriego dann seine Erklärung fort, „Ihr wisst vielleicht nicht, was es für jemanden bedeuten kann, keine Freiheit darüber zu haben, wo er hingehen kann und wo nicht.“ Die junge Hexe schaute traurig zu Boden und viele Gedanken schienen durch ihren Kopf zu huschen. „Aber dann habt Ihr doch die Freiheit hinzugehen, wohin Ihr wollt! Und doch ist die Weite nicht so schön für Euch wie Euer Zuhause. Ist es bei Euch so schön?“, wollte sie neugierig wissen. „Ja, bei uns in Almada ist es wunderschön!“, antwortete er wieder fröhlicher. „Aber Ihr habt Recht. Die Weite, ja, sie ist schön, an den meisten Stellen. Selbst diese trostlose Wüste entfaltet in meinen Augen eine sehr eigentümliche, unvergleichliche Schönheit. Ebenso die schneeverhangenen, menschenleeren Berge des Bornlandes, mit vereinzelten Burgen auf ihren Spitzen.“ Für einen Moment huschte ein Strahlen über sein Gesicht, als er an Sumudan und sein „Preiset die Schönheit“ denken musste. Er hörte sich gerade fast wie der Maraskaner an, doch gab es auch negative Erlebnisse und der Glanz in seinen Zügen verschwand. „Aber Dinge wie die Blutige See, wer kann so etwas schön finden? Eine solche Zerstörung der göttlichen Schöpfung. Und bei mir daheim, ja, es ist wunderschön. Leider bekomme ich in einer Großstadt wie Punin wenig mit von den landschaftlichen Reizen unseres Landes, aber gerade die Weltoffenheit und Vielfalt einer solchen faszinieren mich. Wir haben dort Almadaner, Wüstensöhne, Tulamiden, Nordländer, Thorwaler, Angroschim, sogar einige Elfen. Zwei Magierakademien, Universitäten, der Buchdruck wurde dort erfunden, der beste Wein… naja, ich gebe zu, der wird wohl immer noch auf in den Lieblichen Feldern geerntet.“ Lächelnd zwinkerte er ihr beim letzten Satz mit einem Auge zu, doch Jolinar schien nicht von allem so begeistert wie er selbst. An ein paar Stellen verzog sie kurz das Gesicht, doch je mehr Adriego erzählte, desto stärker wurde ihr Lächeln. Sie unterbrach ihn nicht, sondern lauschte nur und ließ ihn träumen. Noch eine Weile stand Adriego, den Blick in die Wüste gerichtet, neben ihr auf der Düne, doch dann brach er abermals das Schweigen: „Nun, ich will Euch nicht langweilen, warum erzählt Ihr jetzt nicht von Euch?“ „Ihr langweilt mich nicht!“, entgegnete sie mit einem leichten Seufzen. „Ich höre Euch gerne zu. Doch von mir gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Was wollt Ihr denn wissen? Ich komme aus der gleichen Gegend wie Dragomir und jetzt bin ich hier.“ Anspannung lag in ihren Zügen und der Schwertgeselle wunderte sich, warum sie so ungern über sich erzählen wollte. Nach einer kurzen Pause fragte er sie, nur aus dem Willen heraus, das Gespräch aufrecht zu erhalten, nach ihrer Ausbildung: „Was übt Ihr für eine Profession aus? Das würde mich interessieren.“ Etwas verwirrt sah sie ihn an und stutzte: „Welche Profession? Ihr meint welchen Beruf ich erlernt habe? Hm… ich habe eigentlich nicht wirklich einen Beruf erlernt. Man könnte sagen, ich habe meiner Mutter immer etwas unter die Arme gegriffen. Bei uns gab es keinen Apothekarius und meine Mutter hat mehr oder weniger diesen Platz eingenommen.“ Ihr Schulterzucken sollte andeuten, dass es dazu eigentlich nicht mehr zu erzählen gab. Adriego war verwundert und hakte nach: „Apothekerin? Das hätte ich ja gar nicht erwartet. Dann müsst Ihr sehr gebildet sein oder nicht?“ „Nein, keine Apothekerin!“, entgegnete sie schnell und bestimmt. „Es gab halt keinen in der Nähe und meine Mutter kannte sich dort immer noch am besten aus in solchen Dingen. Und bevor die Leute lange Reisen unternehmen müssen, um zu einem Apotheker zu kommen, gehen sie lieber zu ihr! Und ich hatte damit nicht viel zu tun. Ich habe ihr nur geholfen.“ Dem rasenden Tempo ihrer Sätze und der Röte auf ihren Wangen nach zu urteilen, war diese Frau über die Maßen nervös, dachte Adriego. Warum nur? Er musterte sie aufmerksam und sie schob rasch einer möglichen weiteren Frage einen Riegel zu: „Fragt nicht weiter!“ Mit einem Mal wirkte sie zornig und eine Spur von Schärfe lag in ihrem Blick, als er sie irritiert ansah. Was hatte diese schöne Frau nur zu verbergen? Und auch aus seinen Worten gelang es ihm nicht ganz, deutlich erkennbare Nuancen der Härte zu verbannen: „Nun, wenn Ihr nicht erzählen wollt, niemand zwingt Euch dazu. Ich hoffe Ihr könnt noch etwas schlafen.“, zog er zerknirscht und traurig von dannen. Jolinar rannte ihm schnell hinterher und hielt ihn sanft am Handgelenk fest, woraufhin er sich noch einmal missmutig umdrehte. „Bitte, geht nicht einfach so! Und seid mir nicht böse. Ich werde Euch nicht alles von mir erzählen und glaubt mir, Ihr wollt nicht alles wissen. Und trotzdem bitte ich Euch, seid nicht wütend auf mich. Ich versuche nur das Richtige zu tun!“, bemühte sie sich, ihre merkwürdige Haltung zu erklären. Laut und schnell atmete er und Zorn erfüllte seine Augen, doch er besann sich noch einmal eines Besseren, allerdings nicht, ohne ihre Hand von seinem Arm abzustreifen. „Ich verstehe nur immer noch nicht, warum Ihr mir so misstraut.“, presste er ungehalten hervor, „Es gibt viele Schrecklichkeiten auf Dere und Misstrauen hat schon viele gerettet. Aber...“ Eigentlich sollte dieser Satz wohl anders enden, doch nach einem Luftholen wurde daraus dann doch nur ein beherrschtes, abermals gepresst wirkendes „Nein, ich bin Euch nicht böse. Und jetzt solltet Ihr schlafen, wir haben einen langen Tag vor uns, mindestens einen.“ Er zwinkerte ihr kaum merklich zu, doch seine zuvor verspürte Fröhlichkeit war verschwunden. Möglichst leise und ohne sich noch einmal umzudrehen verschwand Adriego in seinem Zelt. Jolinar blickte ihm noch etwas nach, dann kochte ein wenig Ärger in Ihr hoch. Warum konnte nicht einmal alles gut gehen? Dann lief sie zurück in ihr Zelt, warf sich regelrecht auf ihren Schlafplatz und nach kurzer Zeit überwältigte die Müdigkeit Ihre Gedanken an das Gespräch und an die vielen Ereignisse, die derzeit auf sie einprasselten. Adriego jedoch grübelte noch lange darüber nach, was er wohl Falsches gesagt hatte und ob er das Verhalten dieser Frau jemals verstehen würde. Es wäre mehr als unehrenhaft, wenn er sich bei jemand anderem wie Nazir erkundigen würde. Ewig konnte er nicht darüber grübeln, also betete er um einen erholsamen Schlaf zu Boron, der ihm alsbald auch geschenkt wurde.