Kapitel 2, Anna bei der Flucht aus Notmark
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Kapitel 2, Anna bei der Flucht aus Notmark
Anna untersuchte derweil die verschlossene Bodentür und ihre materielle Beschaffenheit. Anschließend brachte sie sich theatralisch in Pose für den befreienden Zauberspruch, berührte das Schloss dreimal mit der flachen Hand und sprach dann leise: „Foramen Foraminor.“ Doch es tat sich nichts. „Was ist denn nun, bei Rondra? Macht schon hin! Lasst uns kämpfen und, wenn nötig, ehrenvoll in die Gefilde der zwölfgöttlichen Paradiese einfahren!“, platzte es aus Jurge hervor, der direkt im Anschluss ein halblautes Stoßgebet rezitierte, um den nächsten Öffnungsversuch zu unterstützen. Anna konzentrierte sich erneut, versuchte all ihre verbliebene Zauberkraft auf die Tür zu fokussieren. Doch mitten in ihrer alles entscheidenden Konzentrationsphase erscholl plötzlich Xardans donnernde Stimme: „Desintegratus Pulverstaub!“ Die schwere Bodentür wurde aus ihren Angeln gerissen, schleuderte mit einer ungekannten Urgewalt gegen die Decke und zerbarst dort in Millionen von Holzspänen. Keiner der umstehenden Gefährten wurde verletzt, lediglich die Überreste der Tür verteilten sich in einem Holzregen auf die kampfbereiten Gefangenen. Diese schauten den bethanischen Magier mit einer Mischung aus grenzenloser Überraschung und tiefem Schock an, während Anna sich umdrehte und ihn mit einem vernichtenden, hasserfüllten Blick strafte. Doch der Horasier bekam das nicht mehr mit, sondern kippte nach hinten auf das dort befindliche Bett, offenbar übermannt von der unerwarteten Wucht, die sein Zauber entwickelt hatte.
Sedrox erreichte unterdessen Anna, die sich an einem der Fenster positioniert hatte. „Was seht Ihr? Kann ich mit meiner Armbrust etwas ausrichten?“ „Hm… ich fürchte nicht.“, antwortete ihm die junge Magierin. „Doch gebt sie mir mal ruhig, diese Schießscharte ist etwas zu hoch, als dass Ihr richtig zielen könntet.“ Der Angroscho überließ ihr tatsächlich nach einigem Zögern seine Waffe und einen Bolzen, zeigte ihr noch kurz, wie die Waffe zu spannen war und machte sich dann wieder auf die Suche nach Geheimgängen. Die rothaarige Adepta drückte sich mit der Armbrust im Anschlag in den Schatten des Raumes und spähte hinaus, das beste Schussfeld und die Erfolgschancen eines jeden Schusses prüfend. Schließlich legte sie leicht wackelig an und zielte auf einen Armbrustschützen auf dem Hof, dessen Deckung ihr zu dürftig schien. […] Im Erdgeschoss des Turms hatten sich einige der Gefangenen gerade wieder blicken lassen, um die Lage zu sondieren, als Anna noch einmal tief durchatmete und dann den Bolzen ihrer Armbrust auf die Reise schickte. Das Geschoss jagte dreißig Schritt über den Hof, durchschlug das dürftige Kettenhemd des jungen Büttels und blieb in der rechten Brusthälfte stecken. Der Getroffene fasste sich irritiert an die Brust, schrie kurz auf und stürzte, aus Wunde und Mund blutend, in eine der verbliebenen Schneeflächen. Das Blut verteilte sich schnell, der Schuss war offensichtlich tödlich. Jegliche Farbe entwich Firutins Gesicht, als er den Schrei vernahm. Sofort feuerten Söldner und Büttel auf die Gefangenen im Turm und erste Bolzen schlugen im Erdgeschoss ein. Einer traf Leodan bösartig in den linken Magenbereich, ein anderer streifte den linken Ärmel von Jurges Kettenhemd. Direkt neben Anna prallten gleich zwei Bolzen gegen die Turmwand und die Magierin zog rasch den hübschen Kopf ein. Als Ramon die Einschläge vernahm, rannte er sofort wieder die Treppe nach unten, stolperte dabei jedoch fast über den suchenden Angroscho. „Sedrox! Was im Namen des Ungenannten ist jetzt hier los? Wer war so töricht, auf die Wachen zu schießen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob er den Zwerg zurück in die Waffenkammer und eilte in den unteren Bereich des Turms, wo er sich sofort in Deckung zu Jobdan und Jurge begab. Auch Curthan und Valeris stürmten aus dem mittleren Stockwerk und drückten den kleinen Gefährten mit dem roten Bart gegen das Regal, in dem zuvor ihre Ausrüstung verstaut war. „Oh…“ Sedrox drehte sich überrascht um, als ein einrastendes Knacken zu vernehmen war, dann fand er mit geübtem Auge den Auslöser des Mechanismus und öffnete vorsichtig mit dem Fuß die sich ihm nun offenbarende Geheimtür. Anna blickte mit großen Augen aus ihrer Deckung zu ihrem zwergischen Gefährten auf, der nun wortlos und mit strengem Blick um seine Armbrust bat. Keine Frage, er wusste sofort Bescheid, wer das Feuer eröffnet hatte. Kleinlaut flüsterte die Magierin: „Gerade jetzt, na toll. Und dann passiert alles natürlich in der falschen Reihenfolge. Was machen wir jetzt? Uns kämpfend ins Ungewisse zurückziehen?“ „Ich weiß es nicht. Wir sollten alle möglichst schnell hier weg. Aber ob uns der Geheimgang in Sicherheit bringen kann, das weiß ich nicht. Kämpfen bringt aber nichts, wir haben eine Armbrust, sie haben zwanzig.“ Es war nicht zu erkennen, was Sedrox vom ungestümen und unbeherrschten Angriff der Magierin hielt. „Hast du etwas, womit wir uns eine Fackel machen können, Numba?“ „Tja, jetzt haben sie ihren Rondra gefälligen Kampf, genauso wie sie es wollten.“, druckste Anna kleinlaut schmollend vor sich hin. „Jetzt wird sich unser Wert wohl in erschlagenen Soldaten messen lassen.“
Praiadan hatte gedanklich noch lange nicht abgeschlossen mit den Vorfällen im Burghof und griff daher die Frage des Zwerges mit funkelnden, hasserfüllten Augen auf. „Wir haben dort oben Firutin gerettet, der durch das Verschulden einer Person aus unserem Kreis, …“, der Geweihte deutete mit dem Kinn in Richtung Anna, „… wahrscheinlich durch Fräulein Rand, in Lebensgefahr gebracht wurde und sind nicht einfach so geflüchtet.“ Viele Augenpaare fixierten nun die junge Magierin, die auf die vorgebrachten Beschuldigungen des Praioten jedoch nicht einging. Stattdessen schritt sie entschlossen zum Seil, packte fest zu und hangelte sich gekonnt nach oben. Sedrox schüttelte resignierend den Kopf, denn sein Verdacht wurde durch den Geweihten bestätigt. Nie wieder würde er so leichtfertig seine Waffe aus den Händen geben, nahm er sich vor. Numba hingegen blickte Anna erstaunt und ungläubig nach, die Vorwürfe drangen nur schwer zu seinem Verstand durch. Es wunderte seinen Freund daher nicht, dass der Maraskaner unmittelbar nach der Magierin das Tau nach oben ergriff und dabei sogar noch dümmlich schmunzelte, als er ihren wohlgeformten Po über sich erblickte. Der Zwerg schüttelte erneut den Kopf und trat zu Praiadan, der sich nach Agum Matras Wohlbefinden erkundigte. Doch der Geweihte drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. „Auf diese Dame sollten wir ein genaues Auge haben. Ihre Handlungsweise erscheint mir des Öfteren äußerst zweifelhaft.“, bekundete auch der norbardische Magier seine Zweifel an Annas Rechtschaffenheit. Dann schleppte sich der Verwundete zum Seil und packte mit aller ihm möglichen Kraft zu. Doch Dragomir hielt ihn zurück.
In der kleinen Kombüse kämpften Eleon und Adriego um Leodans Leben und an Deck wusch Ramon mit seinem letzten Viertelliter Rum seine üble Bauchwunde aus. Anna nahm Jurge, der dem Südländer zur Hand ging, mit mütterlicher Entschlossenheit den Verband ab und hockte sich vor den Verwundeten, der sie fragend anstarrte. „So ihr beiden, gleich könnt ihr mir erklären, warum ihr alle so lädiert seid. Aber vorher lasst mich mal schauen, ob ich helfen kann.“ Die junge Magierin legte ihre Hand auf die nachblutende Wunde, doch das machte ihr augenscheinlich nichts aus. Sie murmelte konzentriert eine, für die beiden Kämpfer unverständliche, Formel und Ramon verlor sich in ihren grünen Augen, in denen in diesem Augenblick etwas unendlich Altes und Ehrwürdiges zu schlummern schien. Ihm wurde warm ums Herz und die Schmerzen schienen wie weggeblasen. Er genoss die sanften Hände der jungen Adepta auf seinem Bauch und kurz bevor er einschlief, entfuhr dem Südländer nur ein einziges Wort: „Bezaubernd…“ Praiadan widerstand nur mühsam der Versuchung, der Verräterin – und nichts Anderes war sie in seinen Augen durch ihren Armbrustschuss auf der Festung – sein Sonnenszepter über den Schädel zu ziehen.