Kapitel 6, Adriego trifft in Kannemünde auf Anna

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  Adriego trank kein Wasser, sondern leerte gerade seinen neunten oder zehnten Krug Bier und war schon ziemlich betrunken. Er saß seit dem frühen Nachmittag im „Zum Goldenen Holken“ und ließ sich volllaufen. Voller Scham dachte er an sein wenig ehrenvolles Verschwinden vom Sammelplatz der Karawane, als sich seine Gefährten mit ihren Kamelen vertraut machten. Für einige von ihnen tat es ihm unendlich leid und er war traurig, Eleon, Sedrox, Numba und Curthan nicht mehr um sich zu haben. Sie müssten ihn nun hassen, das war ihm klar, doch sein Weg konnte einfach nicht länger der ihre sein.
  Da war zum einen Ramon, der ihm Anna ausgespannt hatte und ihn seitdem schnitt. Anna, tja, was sollte er dazu noch sagen? Ein weiterer kräftiger Schluck Bier floss durch seine Kehle in den bereits überfüllten Magen und der Almadaner musste bitter aufstoßen. Natürlich war da auch das große Problem Praiadan, der zunehmend dem Wahnsinn anheimfiel. Ob durch die Narbe verursacht oder nicht: Der irre Praiosgeweihte war eine Gefahr für sich selbst, vor allem aber für die Gemeinschaft. Sumudan hatte vollkommen Recht damit, das Weite zu suchen, dessen war sich Adriego absolut bewusst. Zum dritten waren da noch Rondrik und Dragomir, die lieber kleinkarierte Lokalpolitik betrieben und auf Gutsherrenart durch Kannemünde liefen, dabei jedoch die Augen vor der Realität verschlossen. Sie erkannten weder die riesigen Probleme innerhalb der Gemeinschaft, noch hatten sie die Krankheit Schiffersmanns in ihrer vollen Dimension erfasst. Der Mann starb vor ihren Augen an dem Mal, das auch sie trugen!
  Er leerte seinen Krug und bestellte sogleich lautstark Nachschub, als plötzlich eine wunderhübsche Frau vor ihm stand, die Anna täuschend ähnlich sah. „Hey, du Hübsche. Schetz disch tschu mir!“, lallte er durch den Nebel, der mittlerweile vor seinen Augen stand. „Hier isch Platsch.“ Mit der rechten Hand klopfte er neben sich auf die Holzbank. Tatsächlich setzte sich das Mädel neben ihn und erlaubte ihm sogar, seinen Arm um sie zu legen. „Wie heischt du denn, meine Schüße?“
  „Anna, du Vollidiot.“, erwiderte die junge Dame seelenruhig und Adriego hatte das Gefühl, soeben mit hohem Tempo gegen eine Wand gerannt zu sein. Mit einem Mal war er schlagartig nüchtern – zumindest aber nicht mehr vollkommen besoffen – und musterte seine Nachbarin mit viel klareren Augen und ebenso klareren Verstand, als noch vor wenigen Augenblicken. Sie war es, daran bestand kein Zweifel.
  „Anna, was…“, stammelte Adriego hilflos vor sich hin, „Wie kommst du… aber weshalb…? Ach, Mist.“ Er ließ seinen Kopf auf die Tischplatte zwischen seine Arme sinken und weinte hemmungslos wie ein kleiner Junge vor sich hin.
  Zunächst wollte die junge Hexe ihn in seinem Selbstmitleid ertrinken lassen, doch dann setzte sich Mitgefühl in ihr durch und sie nahm ihn in den Arm. „Beruhige dich erst einmal. Es gibt vieles, was du wissen musst.“, munterte sie ihn sanft auf. „Wo sind die anderen? Auf der „Trutz“? Irgendwo hier in der Stadt?“
  „Es gibt wohl wirklich vieles, was ich wissen muss.“, brachte der Almadaner leise hervor, als er sich etwas gesammelt hatte. „Und auch vieles, was ich nicht wissen will.“ Er schob den leeren Bierkrug bei Seite und Anna wiegelte die Bedienung ab, die ein neues Getränk auf den Tisch stellen wollte. Adriegos Blick fiel auf seine allmählich etwas verblassende Narbe und ruhte dort, bis Anna das Schweigen am Tisch brach.
  „Eine grausame Angelegenheit, furchtbar.“, merkte die junge Hexe an und streichelte ihm über das Mal. „Tut es sehr weh?“
  Der Schwertgeselle schüttelte eifrig den Kopf. „Nein. Wobei…“, begann er zunächst ausweichend, doch dann entschloss er sich, die Wahrheit zu sagen. Tiefer konnte er in ihrer Gunst ohnehin nicht mehr sinken. „Ja, es schmerzt. Je weiter weg die anderen sind, umso mehr tut es weh. Ich habe mich verpisst, Anna, habe sie alleine in die Wüste ziehen lassen.“ Kurz fasste er die vielen Ereignisse der vergangenen Tage seit der Schlacht zusammen und gemeinsam schwiegen sie bei einem Becher Wasser.
  „Ich muss Dir auch etwas erzählen. Am Tag des Gefechts habe ich Euch auch im Stich gelassen und floh. Mit meinem Stab, ich flog einfach davon.“, begann sie und natürlich schaute Adriego auf, als sie ihr ungewöhnliches und gleichsam entlarvendes Fortbewegungsmittel erwähnte. „Ich bin eine Hexe, eine Dienerin Satuarias. Unsere Niederlage war unausweichlich und ich floh feige. Doch dann fühlte ich eine Gebundenheit, eine Verpflichtung und reiste nach Jergan. Ich dachte ihr wärt dorthin verschleppt worden. Dort erfuhr ich mehr über das Mal und auch, dass ihr alle in Freiheit seid. Da blieb nur Kannemünde als Ziel übrig, daher bin ich hier.“
  Ungläubig starrte Adriego seine große Liebe an, konnte nicht begreifen, was er da hörte.
  „Ja, das alles ist viel heute Abend, ich weiß. Aber wir müssen zu den anderen, sie warnen! Sie laufen einer großen Gefahr in die Arme, einer Bedrohung der sie möglicherweise nicht gewachsen sind.“
  Noch immer musterte sie der Schwertgeselle skeptisch, dann nickte er, vor dem Unausweichlichen kapitulierend. „Auch mir ist klar, dass ich zu ihnen zurück muss. Aber alleine durch die Wüste?“, fragte er mit einem verbitterten Gesichtsausdruck.
  „Lass das mal meine Sorge sein.“, lächelte Anna ihn an, doch dann wurde ihre Miene ernst. „Sag, lebt Ramon noch?“ Sofort verschwand die Farbe aus Adriegos Gesicht und seine Züge erstarrten. „Hör zu, mein Freund.“, setzte die rothaarige Hexe zur Erklärung an. „Mein Körper gehörte dir und es war schön. Doch ich liebe Ramon! Versteh mich bitte, es ist kompliziert, aber es ist nun mal so.“
  Der enttäuschte Almadaner nickte, er hatte es vor sich selbst ja schon eingestehen müssen, dass er nicht ihre erste Wahl war. „Er lebt.“, brachte er mit großer Mühe hervor. „Er brach sich das Bein bei dem Gefecht und kehrte trotzdem zurück in die Schlacht. Er war ein Vorbild an Tapferkeit und Opferbereitschaft.“
  Anna war erleichtert und strahlte bis über beide Ohren, so dass auch Adriego ihr nicht länger böse sein konnte. Das erste Mal war sie aufrichtig ihm gegenüber und er lächelte zurück. „Wir sollten zurück auf die Schivone, oder?“, erkundigte er sich bei ihr.
  „Ja, das sollten wir. Morgen früh müssen wir schnell für Hilfe sorgen und sobald wie möglich aufbrechen.“, stimmte Anna zu und gemeinsam verließen sie kurz darauf das Gasthaus. Glücklich für diesen Moment, alle beide.