Kapitel 6, Anna und Jolinar

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Kapitel 6, Anna und Jolinar

 Als der heftige Sturm endlich nachließ, nahm sie ihren Mut zusammen und sprach ihre Gefährtin an: „Sag mal, Anna, ist es denn angenehm mit einem Praios gefälligen Menschen wie Adriego zu reisen?“ Insgeheim schalt sie sich schon für diesen tollpatschigen Gesprächseinstieg, vielleicht hätte sie doch besser die direkte Variante gewählt.
  „Adriego und Praios gefällig?“, wandte sich Anna zur ihm um und kicherte amüsiert. „Wie kommst du darauf? Er scheint die Zwölfe zu ehren, jedoch Praios dabei keine sonderliche Stellung einzuräumen.“ Ihre Antwort klang ausweichend, so als ob sie nicht wüsste, worauf Jolinar eigentlich hinauswollte.
  „Doch! Hast du nicht bemerkt, dass er immer „in Praios Namen“ und so sagt?“, versuchte sie ihren Eindruck zu verdeutlichen, doch ein besseres Beispiel fiel ihr partout nicht ein.
  Ihre Gesprächspartnerin schüttelte lachend den Kopf: „Das „in Praios Namen“ ist nur so eine Redewendung. Soweit er es mir erzählt hat, wurde in seiner Ausbildung viel Wert daraufgelegt, aber sag worauf willst du eigentlich hinaus?“
  Sollte sie es wagen und das Thema doch direkt und offen ansprechen? Jolinar versuchte es auf einem anderen Weg und blickte Anna lange und tief in die Augen. Dabei erkannte sie sofort ihre enge Bindung zu der rotgetigerten Katze und spürte ihre tiefe Liebe zu Sumu, was ihr ein wissendes Grinsen um die Lippen zauberte.
  „Du ahntest es schon die ganze Zeit, nicht wahr?“, fragte Anna nüchtern, jedoch auch mit einem erfreuten Unterton.
  Die jüngere der beiden Hexen nickte nur eifrig: „Ja, habe ich. Das Zeichen auf deiner Hand hat mich davon abgehalten, schon eher mit Dir darüber zu sprechen.“
  „Das hier?“, fragte die vorgebliche Magierin und zeigte Jolinar ihre Handinnenfläche. „Das ist das Gildensiegel der Halle der Antimagie zu Kuslik, nicht das ich sonderlich stolz drauf wäre aber damals hat sich mir diese einmalige Chance geboten.“ Diesmal schaute Anna der Bornländerin tief und forschend in die Augen. „Es bewahrt mich vor den Übergriffen der lästigen Praiosgeweihten und mir wird Achtung entgegengebracht. Im Herzen bleibe ich das, was ich für alle meinen Schwestern bin. Nach Außen bin ich eine Magierin.“, erklärte sie den Nutzen ihres Siegels und lächelte zufrieden.
  Doch Jolinar war empört und fragte beinahe wütend: „Du hast Magiern verraten, wie wir unsere Magie wirken und welche Sprüche wir anwenden?“
  Die harsche Reaktion erstaunte Anna und sie verschränkte ablehnend ihre Arme vor der Brust. „Ich erkläre es Dir noch einmal: Ich trage dieses Siegel als Tarnung, bis auf eine Grundausbildung in Sachen gildenmagischer Zauberei habe ich nichts mit diesen Bücherwürmern zu tun und ich werde einen Gehörnten tun, denen auch nur ein Quäntchen unserer Magie zu zeigen.“, legte sie ihre Beweggründe noch einmal dar und Jolinars Stimmung verbesserte sich schlagartig.
  „Ach, dann ist es gut.“, grinste sie zufrieden, legte sich auf den Bauch und dachte einen Moment nach. „Alleine bist du aber nicht mehr, ich habe dein kleines Kätzchen schon heute Mittag am Brunnen entdeckt.“
  Anna grinste mädchenhaft und glücklich, dann holte sie ihre kleine Gefährtin aus ihrem Versteck unter ihrer rechten Brust. „Das stimmt. Vor noch nicht einmal zwei Wochen ist es mir zugelaufen.“, strahlte sie und ließ Jolinar das putzige Tierchen streicheln. „Es hat mir seinen Namen noch nicht gesagt.“
  „Die ist ja süß!“, freute sich die bornische Hexe mit ihr, kraulte der kleinen Katze den Bauch und drehte sich dann verträumt auf ihren Rücken.
  […]Das Reden über ihre Gefährten langweilte sie allmählich und ihre Gedanken wanderten in eine andere Richtung. Als ihr Kätzchen sich wieder zu ihr legte und sich am Bauch kraulen ließ, wechselte Anna das Thema: „ Hast Du Dir eigentlich schon von deinem verwegenen Begleiter alle Wünsche erfüllen lassen? Ich habe bemerkt, wie er uns regelmäßig auf Busen, Beine und Hintern glotzt.“ Sie grinste anzüglich und blickte zu Jolinar hinüber, die sich wie erwartet ruckartig aufrichtete.
  „Nein, habe ich nicht“, empörte sich die jüngere der beiden Hexen zornig. „Und er glotzt uns auch nicht an. Lass gefälligst Deine Finger von ihm!“ Diese Worte waren wohl etwas schroffer aus ihrem Mund gedrungen als sie eigentlich wollte. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und legte sich wieder hin. „Wir kennen uns noch nicht so lange.“, seufzte sie schließlich und Anna erkannte sofort das Problem der beiden. „Ich begleite ihn nur, oder er begleitet mich. Mehr ist da wohl nicht, leider.“ Jolinar wirkte nun sehr unglücklich, doch schnell hatte sie sich wieder im Griff und ihr Gesicht wirkte kalt und neutral, wenn auch mit einem Hauch von kindlicher Naivität und Verliebtheit.
  „Du kannst ihn ruhig behalten, solche Kerle interessieren mich nicht die Bohne.“, wollte Anna sie beruhigen, doch sofort protestierte die jüngere Hexe.
  „Wer sagt denn, dass ich ihn haben will?“ Doch schon in dem Moment, als sie diesen Satz aussprach, fiel ihr auf, wie dumm und kindisch er sich wohl anhören musste. „Hast Du denn einen Liebsten, der auf Dich wartet? Ist er vielleicht sogar in der anderen Gruppe?“, schob sie das peinliche Thema weiter an die Ältere.
  „Natürlich habe ich sie hier.“, antwortete ihre Freundin ausweichend und kraulte das kleine Kätzchen. „Aber ich glaube die Kleine zählt nicht.“ Annas Gesicht rötete sich etwas und sie lächelte voller Vorfreude. „Ramon ist mein Liebster. Ich habe ihn in Perricum nach einer längeren Schiffsreise verführt. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen an diesem Abend, manchmal brauche ich einfach einen Mann! Aber das mit ihm war anders, zweimal hat es richtig geprickelt.“ Sofort überfiel sie eine tiefe Sehnsucht, ein ungestilltes Verlangen brach sich Bahn.
  „Gleich zwei Mal?“, erkundigte sich Jolinar erstaunt, ebenfalls mit roten Wangen und einem unterdrückten Lächeln auf den Lippen. „Noch nie habe ich eine Nacht mit einem Mann verbracht. Ich glaube, ich werde das auch nie.“ Sie wirkte nun betrübt und verbittert. „Die einzigen Männer, die ich vor Nazir kennen gelernt habe, waren mein Vater und meine zwei Brüder. Ich würde mir auch gerne nehmen was ich will, aber...“ Die junge Bornländerin rang nach den richtigen Wörtern, um ihre Gefühle zu beschreiben, fand sie jedoch nicht und schaute hilflos zu Anna.
  „Weißt Du, im Grunde seines Herzens ist jeder Mensch, der nicht von Liebe erfüllt ist einsam.“, stellte die vermeintliche Magierin fest, hob ihren Kopf ein wenig und schaute Jolinar tief in die Augen. „Ich glaube wir reden ein anderes Mal weiter, einverstanden?“
  Mit einem geistesabwesenden Nicken stimmte ihre Gesprächspartnerin zu. Sie hatte nun einiges, worüber sie sich Gedanken machen musste. Vielleicht sogar zu viel auf einmal, doch wenn Kamelreisen durch die Wüste für etwas gut waren, dann sicherlich zum Nachdenken.